Skan
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Was ist Skan? | Wilhelm Reich

Aus: Wilhelm Reich: Charakteranalyse

Plasmatische Ausdrucksbewegung und emotioneller Bewegungsausdruck

Es ist schwierig, das »Lebendige« funktionell streng zu definieren. Die Vorstellungen der alten Psychologie und der Tiefenpsychologie sind an Wortbildungen gebunden. Das Lebendige aber funktioniert jenseits aller Wortvorstellungen und -begriffe. Die Wortsprache ist eine biologische Ausdrucksform auf bereits hoher Entwicklungsstufe. Sie ist kein unerlässliches Attribut des Lebendigen, denn das Lebendige funktioniert lange, ehe es eine Sprache und Wortbildung gibt. Die Tiefenpsychologie operiert daher mit einer spät entwickelten Lebensfunktion. Bei den Tieren gibt es den Ausdruck durch Laute. Doch das Lebendige funktioniert auch jenseits und vor aller Lautbildung als Ausdrucksform.

Die Wortbildung selbst verrät den Zugang zum Problem, in welcher Weise sich das Lebendige ausdrückt. Das deutsche Wort »Ausdruck« und das englische »expression« beschreiben genau, offenbar auf Grund der Organempfindungen, die Sprache des Lebendigen: Das Lebendige drückt sich in Bewegungen aus, und wir sprechen daher von »Ausdrucksbewegung«. Die Ausdrucksbewegung ist eine streng zugehörige Eigenschaft des Protoplasmas. Sie unterscheidet das Lebendige von allen nichtlebenden Systemen. Das Wort besagt wörtlich, und wir müssen es wörtlich nehmen, dass sich im lebendigen System etwas »aus-« oder »herausdrückt« und daher »bewegt«. Nichts anderes als das Vorquellen des Protoplasmas, also die Expansion oder Kontraktion, kann gemeint sein. Die wörtliche Bedeutung von »Emotion« ist »Herausbewegung«. Sie ist gleichzeitig »Ausdrucksbewegung«. Der physikalische Vorgang der plasmatischen Emotion oder Ausdrucksbewegung ist unabtrennbar verknüpft mit einer unmittelbar verständlichen Bedeutung, die wir den »Bewegungsausdruck« zu nennen pflegen. Die Bewegung des Protoplasmas hat also einen Ausdruck im Sinne einer Emotion, und jede Emotion oder der Ausdruck eines Organismus ist an Bewegung geknüpft. Der zweite Teil dieses Satzes wird einer kleinen Berichtigung bedürfen. Denn wir wissen aus der Orgontherapie, dass es einen Ausdruck bei Menschen gibt, der durch Unbeweglichkeit oder Starre bedingt ist.

Wir haben hier nicht mit Worten gespielt. Es ist offenkundig, dass die Sprache in ihren Wortbildungen sich an die Wahrnehmung innerer Bewegungszustände und Organempfindungen anlehnt und dass die Worte, die emotionelle Zustände beschreiben, die entsprechenden Ausdrucksbewegungen des Lebendigen unmittelbar wiedergeben.

Wenn auch die Sprache den plasmatischen Emotionszustand unmittelbar wiedergibt, so vermag sie an diesen Zustand selbst nicht heranzukommen. Das Lebendige funktioniert nicht nur vor und jenseits der Wortsprache; es hat überdies seine eigenen Ausdrucksformen der Bewegung, die mit Worten überhaupt nicht zu fassen sind. Jeder musikalische Mensch kennt den Emotionszustand, den große Musik hervorruft. Versucht man diese Emotionszustände in Worte zu fassen, so sträubt sich das musikalische Empfinden. Die Musik ist wortlos und will es bleiben. Sie ist trotzdem ein Bewegungsausdruck des Lebendigen und ruft im Hörer »Ausdruck« oder »Bewegtheit« hervor.

Man pflegt die Wortlosigkeit der Musik entweder als Zeichen von mystischer Geistigkeit oder aber als allertiefsten, in Worten nicht fassbaren Gefühlsausdruck zu bezeichnen. Der naturwissenschaftliche Standpunkt bekennt sich zur Deutung, dass der musikalische Ausdruck mit letzten Tiefen des Lebendigen zusammenhängt. Was man als »Geistigkeit« großer Musik betrachtet, wäre demnach nur eine Umschreibung der einfachen Tatsache, dass Gefühlsernst identisch ist mit Kontakt mit Lebendigem jenseits der Sprachgrenze.

Die Wissenschaft hat bisher über das Wesen des musikalischen Bewegungsausdrucks nichts Entscheidendes zu sagen gewusst. Der Künstler selbst spricht zu uns zweifellos in der Form wortloser Ausdrucksbewegungen aus der Tiefe der Lebensfunktion; aber er könnte das, was er musikalisch oder malerisch ausdrückt, selbst ebenso wenig in Wort fassen wie wir. Ja, er verwahrt sich gegen jeden Versuch, die Ausdruckssprache der Kunst in die Wortsprache des Menschen zu übersetzen. Ihm liegt also sehr viel an der Reinheit seiner Ausdruckssprache. Er bestätigt dadurch die orgonphysikalische Behauptung, dass das Lebendige über eine eigene Ausdruckssprache vor, jenseits und unabhängig von aller Wortsprache verfügt. Sehen wir zu, was die orgontherapeutische Arbeit zu diesem Problem, zu sagen hat.

Knüpfen wir an eine alltägliche Erfahrung der Orgontherapie an.

Die Kranken kommen zum Orgontherapeuten voll von Nöten. Diese Nöte sind für das geübte Auge an den Ausdrucksbewegungen und dem Bewegungsausdruck ihres Körpers direkt abzulesen. Läßt man die Kranken nun nach Belieben sprechen, so stellt man fest, daß ihr Reden von den Nöten wegführt, sie in dieser oder jener Weise verhüllt. Will man zu einer korrekten Entscheidung kommen, so muss man den Kranken dazu verhalten, vorerst nicht zu sprechen. Diese Maßnahme erwies sich in hohem Grade als fruchtbar. Denn sobald der Kranke nicht mehr redet, tritt der körperliche Bewegungsausdruck klar hervor. Nach wenigen Minuten des Schweigens hat man gewöhnlich den meist hervorstechenden Charakterzug, oder korrekter, den plasmatischen Bewegungsausdruck erfasst. Schien der Kranke, während er sprach, freundlich zu lächeln, so verwandelt sich im Schweigen sein Lächeln in ein leeres Grinsen, an dessen maskenhaftem Charakter auch der Kranke selbst nicht lange zweifeln kann. Schien der Kranke, während er sprach, mit verhaltenem Ernst über sein Schicksal zu sprechen, so tritt während des Schweigens etwa ein Ausdruck verhaltener Wut an Kinn und Hals unzweideutig hervor.

Diese Beispiele genügen, zu zeigen, dass die Wortsprache regelmäßig auch als Abwehr funktioniert: Die Wortsprache verdeckt die Ausdruckssprache des biologischen Kerns. In sehr vielen Fällen ist die Funktion der Wortsprache so weit entartet, dass die Worte überhaupt nichts ausdrücken und bloß eine dauernde, nichts sagende Betätigung der Hals- und Stimmuskulatur darstellen. Ich glaube auf Grund ernster Erfahrungen, dass in vielen Psychoanalysen von jahrelanger Dauer die Behandlung ein Opfer dieser krankhaft gewordenen Wortsprache wurde. Man kann, und muß sogar, diese klinische Erfahrung ins Soziale übertragen. Unendlich viele Vorträge, Publikationen, politische Debatten haben nicht die Funktion, wichtige Lebensfragen zu enthüllen, sondern im Wortschwall zu verbergen.

Die Orgontherapie unterscheidet sich von allen anderen Arten der Beeinflussung des Organismus dadurch, dass sie unter weitgehender Ausschaltung der Wortsprache den Kranken dazu anhält, sich biologisch auszudrücken. Derart führ sie ihn in eine Tiefe, die er stets flieht. So lernt man in der Orgontherapie die Sprache des Lebendigen kennen, verstehen und beeinflussen. Die primäre Ausdrucksprache des lebenden Protoplasmas ist beim Kranken nicht ohne weiteres »rein« zu haben. Wäre sein Bewegungsausdruck biologisch »rein«, so hätte er keinen Anlass, den Orgontherapeuten aufzusuchen. Wir müssen durch eine Fülle krankhafter, unnatürlicher, im Prozess des Lebens selbst nicht gegebener Ausdrucksbewegungen hindurch, um zum echten biologischen Bewegungsausdruck vorzudringen. Die menschliche Biopathie ist ja nichts anderes als die Summe aller Verzerrungen der natürlichen Ausdrucksformen des Lebendigen. Durch die Enthüllung der krankhaften Ausdrucksformen lernen wir die menschliche Biopathie in einer Tiefe kennen, die den mit der Wortsprache arbeitenden Heilmethoden unzugänglich ist. Dies ist nicht einer Unzulänglichkeit dieser Methoden zuzuschreiben. Sie sind perfekt im eigenen Bereiche. Leider liegt die Biopathie mit ihrem verzerrten Lebensausdruck außerhalb des Bereiches der Sprache und der Vorstellungen.

Die orgontherapeutische Arbeit an der menschlichen Biopathie liegt deshalb wesentlich außerhalb des Bereiches der Wortsprache. Wir bedienen uns natürlich auch des gesprochenen Wortes; aber die Worte appellieren nicht an die Vorstellungen des Alltags, sondern an die Organempfindungen. Es wäre völlig fruchtlos, dem Kranken seinen Zustand etwa in Begriffen der Physiologie verständlich zu machen. Wir sagen ihm nicht: »Ihre Kaumuskeln sind im Zustand chronischer Kontraktur, deshalb bewegt sich das Kinn beim Sprechen nicht, deshalb ist Ihre Stimme monoton; aus dem gleichen Grunde können Sie nicht weinen; Sie müssen immerfort schlucken, um einen Weinimpuls zu bekämpfen, etc.« Der Kranke würde solche Sätze zwar intellektuell begreifen, aber er könnte nichts am Zustand ändern.

Wir arbeiten auf einem biologisch tieferen Niveau des Verständnisses. Es liegt uns überhaupt nicht viel daran, genau angeben zu können, welche einzelnen Muskeln kontrahiert sind. Es würde nichts nützen, etwa den Massetermuskel zu drücken; es gäbe keine Reaktion außer gewöhnlichen Schmerz. Wir arbeiten mittels der Gebärdensprache. Nur dann, wenn wir den Gesichtsausdruck des Kranken empfunden. haben, sind wir in der Lage, ihn auch zu begreifen. Und ihn begreifen bedeutet hier ganz streng, zu wissen, welche Emotion sich in ihm »ausdrückt«. Es ist dabei gleichgültig, ob die Emotion bewegt tätig oder unbewegt verhalten ist. Wir werden zu verstehen haben, worin der Unterschied zwischen einer bewegten und einer verhaltenen Emotion besteht.

Wir operieren mit primären biologischen Funktionen, wenn wir den »Bewegungsausdruck« eines Kranken »empfinden«.Wenn in einer Gruppe von Sperlingen ein einziger Sperling unruhig wird und Gefahr witternd davonfliegt, fliegt die ganze Gruppe, gleichgültig ob alle anderen Sperlinge die Ursache der Unruhe bemerkt haben oder nicht. Die Panikreaktion im Tierbereiche beruht auf einer unwillkürlichen Reproduktion des Bewegungsausdrucks der Angst. Man kann auf der Strasse beliebig viele Menschen veranlassen, stehenzubleiben und suchend in den Himmel zu blicken, wenn man so tut, als ob man etwas Interessantes in der Luft hoch oben beobachtete. Diese Beispiele genügen.

Der Bewegungsausdruck des Kranken führt in unserem Organismus unwillkürlich eine Imitation herbei. Indem wir imitieren, empfinden und verstehen wir den Ausdruck in uns selbst und derart auch im Kranken. Da Jede Bewegung einen Ausdruck hat und derart einen Emotionszustand des Protoplasmas verrät, wird uns die Gebärden- und Ausdruckssprache zum wesentlichen Verständigungsmittel im Kontakt mit den Emotionen des Kranken. Wie ich bereits betonte, stört die Wortsprache die Gebärdensprache. Unter »Charakterhaltung« verstehen wir den »Gesamtausdruck« eines Organismus. Dem entspricht wörtlich der »Gesamteindruck«, den ein Organismus auf uns macht.

Der Bewegungsausdruck verschiedener Menschen mag im einzelnen sehr verschieden sein. Es gibt nicht zwei Individuen, die die genau gleiche Sprache oder Sperre der Atmung oder den gleichen Gang hätten. Trotzdem kann man einige allgemeingültige Ausdrucksformen unterscheiden. In der Tiefenpsychologie unterscheiden wir prinzipiell den »neurotischen« und den »genitalen« Charakter auf Grund der muskulären und charakterlichen Panzerung. Wir sagen, ein Charakter wäre »neurotisch«, wenn der Organismus von einem starren Panzer beherrscht wird, den der Betreffende nicht willkürlich verändern oder beseitigen kann. Wir sprechen von einem »genitalen« Charakter, wenn die emotionellen Reaktionen nicht durch starre Automatismen eingeschränkt sind, wenn also der Betreffende biologisch entsprechend der jeweiligen Situation, in der er sich befindet, zu reagieren vermag. Diese zwei charakterlichen Grundtypen lassen sich nun auch im Bereiche des biologischen Funktionierens recht scharf auseinanderhalten.

Die Panzerung, ihre Art, der Grad ihrer Starre und Einschränkung des emotionellen Bewegungsausdrucks lassen sich leicht beurteilen, wenn man einmal die biologische Ausdrucksprache zu beherrschen gelernt hat. Der Totalausdruck des gepanzerten Organismus ist der der »Zurückhaltung«. Dieser Ausdruck ist ganz wörtlich zu nehmen. Der Körper drückt aus, dass er sich zurückhält. Rückgezogene Schultern, hochgehaltener Brustkorb, festgeklemmtes Kinn, flacher, verhaltener Atem, hohles Kreuz, rückgezogenes, »stilles« Becken, »ausdruckslose« oder starr gestreckte Beine sind die wesentlichen Haltungsmechanismen der totalen Zurückhaltung. Wir können sie schematisch in folgender Zeichnung festhalten:

Diese körperliche Grundhaltung des »neurotischen« Charakters tritt klinisch am klarsten als »arc de circle« der Hysterie und als »Opisthotonus« der stupurösen Katatonie in Erscheinung. Man überzeugt sich leicht davon, dass die Grundhaltung des gepanzerten Körpers nicht willkürlich hergestellt, sondern autonom ist. Der gepanzerte Mensch fühlt die Haltung der Panzerung als solche nicht. Versucht man sie ihm in Worten zu beschreiben, so versteht er meist nicht, worüber man spricht. Er spürt nicht die Panzerung selbst, sondern nur die Verzerrung seiner inneren Lebensempfindungen. Er beschreibt sich als uninteressiert, steif, eingeengt, leer, oder er klagt über Herzpalpitation, Stuhlverstopfung, Schlaflosigkeit, innere nervöse Unruhe, Übelkeit etc. Hat die Panzerung sehr lange bestanden und auch die Gewebe der Organe beeinflusst, so kommt der Kranke zu uns wegen Magenulcus, Rheumatismus, Arthritis, Krebs oder Angina pectoris. Ich kann mich auf diese Übersicht beschränken, da ich die rein klinischen Tatsachen anderwärts ausführlich dargelegt habe. Hier kommt es uns vor allem darauf an, zu den Funktionen der biologischen Tiefe vorzudringen und aus ihnen das Funktionieren des Lebendigen abzuleiten. Der gepanzerte Organismus ist außerstande, seinen Panzer aufzulösen. Er ist aber auch außerstande, die primitiven biologischen Emotionen zu äußern. Er kennt das Kitzelempfinden, aber er weiß nicht, was orgonotische Lust ist. Er kann keinen Lustseufzer ausstoßen oder willkürlich imitieren. Statt eines Seufzers kommt typisch ein Stöhnen, unterdrücktes grollendes Brüllen oder gar ein Brechimpuls zum Vorschein. Er ist nicht imstande, einen Wutschrei auszustoßen oder seine Faust Wut imitierend niedersausen zu lassen. Er kann nicht voll ausatmen. Sein Zwerchfell ist in der Bewegung sehr eingeschränkt. (Das lässt sich mittels der Röntgenmaschine leicht feststellen.) Er vermag das Becken nicht vorwärts zu bewegen. Oft versteht der Gepanzerte nicht, was man von ihm verlangt, oder er führt die verkehrte Bewegung aus, also die, die in der Richtung der Zurückhaltung liegt. Die Überspannung des peripheren Muskel-Nervensystems stellt eine große Empfindlichkeit gegen Druck her. Man kann einen gepanzerten Organismus an bestimmten Stellen des Körpers nicht berühren, ohne hochgespannte Angst- oder Nervositätserscheinungen hervorzurufen. Wahrscheinlich lässt sich das, was der Volksmund als »Nervosität« bezeichnet, auf diese Überempfindlichkeit der hochgespannten Muskeln zurückführen. Aus der totalen Zurückhaltung folgt die Unfähigkeit zur plasmatischen Zuckung und Konvulsion im sexuellen Akt, also die orgastische Impotenz. Daraus folgt weiter die Stauung der sexuellen Energie, und aus der Sexualstauung folgt alles, was ich unter dem Begriff »Biopathie« zusammenfasse.

Die zentrale Aufgabe der Orgontherapie ist die Zerstörung der Panzerung, mit anderen Worten die Herstellung der Beweglichkeit des Körperplasmas. Im gepanzerten Organismus ist die Pulsationsfunktion in allen Organen mehr oder minder eingeschränkt. Die Orgontherapie hat die volle Fähigkeit zur Pulsation wiederherzustellen. Das geschieht biophysikalisch, indem die Zurückhaltung aufgelöst wird. Das Resultat der ideal durchgeführten Orgontherapie ist das Auftreten des Orgasmusreflexes. Er ist, wie wir wissen, neben der Atmung die wichtigste Bewegungserscheinung im Tierbereich. Der Organismus »gibt sich« im Augenblicke des Orgasmus völlig seinen Organempfindungen und den unwillkürlichen Körperzuckungen hin. Derart ist mit der Bewegung des Orgasmusreflexes unweigerlich der Ausdruck der »Hingabe« verknüpft. Der Kenner unserer Arbeit weiß, dass wir nicht etwa dem Kranken predigen, sich »hinzugeben«. Es würde nichts nützen, denn er könnte es nicht ausführen. Und wenn er es könnte, brauchte er unsere Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen. Wir lassen auch nicht den Kranken »Hingabe üben«, denn keinerlei willkürliche technische Maßnahme wäre imstande, die unwillkürliche Haltung der Hingabe herbeizuführen. Das Lebendige funktioniert autonom, jenseits des Bereiches von Sprache, Intellekt und Willkür. Es funktioniert nach bestimmten Naturgesetzen, die wir hier zu erforschen haben. Der Orgasmusreflex ist mitsamt seinem Gebärdenausdruck der Hingabe, wie's sich bald zeigen wird, der Schlüssel zum Verständnis von fundamentalen Naturprozessen, die weit über das Individuum und sogar über das Lebendige hinausführen. Wer also den weiteren Ausführungen in fruchtbarer Weise folgen will, der bereite sich auf eine ernste Reise in das Gebiet der kosmischen Energie vor. Er wird enttäuscht und verständnislos versagen, wenn er sich dabei nicht radikal von der Sexualitätsauffassung der Nachtklubs freigemacht hat. Wir haben früher die Funktionen des Orgasmus im Bereiche der Psychologie und Physiologie zur Genüge studiert, um uns hier auf die grundsätzliche Naturerscheinung »Orgasmus« ausschließlich zu konzentrieren. Im Orgasmus versucht der Organismus merkwürdigerweise, die beiden embryologisch wichtigen

Stellen des Mundes und des Afters immerzu zusammenzubringen.

Ich sagte, die Haltung, von der der Orgasmusreflex seinen Ausgang nimmt, wäre identisch mit dem Bewegungsausdruck der »Hingabe«. Sie ist uns unmittelbar verständlich: Der Organismus gibt sich zunächst seinen plasmatischen Erregungen und Strömungsempfindungen hin; er gibt sich ferner völlig dem Partner in der sexuellen Umarmung. Jede Art Reserve, Zurückhaltung und Panzerung ist aufgegeben. Alle biologische Aktivität ist auf die Kernfunktion der plasmatischen

Zuckung reduziert. Beim Menschen hört alle Denk- und Phantasietätigkeit auf. Der Organismus ist »hingegeben« im reinsten Sinne des Wortes. Der emotionelle Bewegungsausdruck der Hingabe ist klar. Unklar ist die Funktion der orgastischen Zuckung. Diese Zuckung besteht in abwechselnden Kontraktionen und Expansionen des totalen Körperplasmas. Welche Funktion hat die Annäherung der beiden Enden des Rumpfes aneinander in der orgastischen Zuckung? Sie scheint auf den ersten Blick keinerlei »Sinn« zu verraten. Der Ausdruck dieser Bewegung ist unverständlich. Wenn unser Satz zu Recht besteht, dass jede organismische Bewegung einen verständlichen Ausdruck hat, so versagt unsere Behauptung im Falle der orgastischen Zuckung. Wir können im Orgasmus keinen verständlichen, in die Wortsprache übersetzbaren Ausdruck finden. Statt nun über dieses Problem naturphilosophisch zu spekulieren, wollen wir uns mit der naturwissenschaftlichen Antwort bescheiden, dass die orgastische Zuckung uns zwar unverständlich erscheint, dass sie aber dennoch einen verborgenen Ausdruck haben muss. Denn sie ist wie jede Bewegung des Lebendigen eine Ausdrucksbewegung; sie müsste also auch einen Bewegungsausdruck verraten.

Wir werden im weiteren Verlaufe unserer Untersuchungen zu einer erstaunlichen, aber einwandfreien Antwort auf diese Grundfrage der Lebensfunktion gelangen. Doch wir müssen weit abschweifen und eine große Anzahl biologischer Erscheinungen sammeln und richtig anordnen lernen, ehe wir die Antwort finden. Sie liegt jenseits des individuellen biologischen Organismus, ist also überindividuell, aber in keiner Weise mystisch, metaphysisch oder spiritualistisch. Sie löst das Rätsel, in welcher konkreten Weise das Tier und die Pflanze mit der kosmischen Orgonenergie verknüpft sind. Sie erklärt derart auch, weshalb die orgastische Sehnsucht der Lebewesen nicht nur die allertiefste Sehnsucht, sondern in so hervorragender Weise kosmische Sehnsucht ist. Man weiß zwar allgemein, dass der Organismus ein Stückchen Kosmos ist, aber es blieb bisher unklar, wie. Kehren wir zur orgontherapeutischen Klinik zurück:

Orgonphysikalisch gesprochen besteht unsere Aufgabe darin, den menschlichen Organismus zu befähigen, den Automatismus der Zurückhaltung aufzugeben und die Fähigkeit zur Hingabe zu erlangen. Mit anderen Worten: Der Organismus vermag nicht, sich an irgendwelche Erlebnisse, sei es Arbeit, sei es Freude, hinzugeben, solange die beiden embryonalen Enden des Rumpfes rückwärts statt vorwärts zueinander streben. Da es die muskuläre Panzerung ist, die jede Art von Hingabe behindert und jede Art biopathischer Lebenseinschränkung verursacht, kommt es zunächst auf die Auflösung der muskulären Panzerung an. Es ist einzig und allein diese Auflösung der muskulären Starre, die geeignet ist, das Ziel zu erreichen. Weder Psychoanalyse, Zureden, Suggestion beliebiger Art noch Beten oder Gymnastik könnte es leisten. Wir belehren den Kranken gar nicht über das Ziel, das er erreichen wird, wenn unsere Arbeit gelingt. Wir wissen aus zahlreichen Erfahrungen, dass er unweigerlich den totalen Orgasmusreflex entwickeln wird, wenn wir seine muskuläre Panzerung auflösen. Im Verlaufe der Arbeit überzeugen wir uns regelmäßig, dass die Haupt- und Grundfunktion der muskulären Panzerung die ist, den Orgasmusreflex nicht zuzulassen. Ich habe an anderer Stelle zahlreiche Mechanismen der Panzerung beschrieben. Hier möchte ich einen neuen Gesichtspunkt einführen, der uns die charakterliche und muskuläre Panzerung auf dem Niveau der primitivsten Lebensfunktionen begreiflich macht. Die entsprechenden Beobachtungen sind nun etwa zehn Jahre lang gesammelt worden. Ich darf also die volle Verantwortung für die Bedeutung übernehmen, die ihnen in der Biophysik zukommen.