Aus: Wilhelm Reich: Charakteranalyse
Plasmatische Ausdrucksbewegung und emotioneller Bewegungsausdruck
Es ist schwierig, das
»Lebendige« funktionell streng zu definieren. Die Vorstellungen der
alten Psychologie und der Tiefenpsychologie sind an Wortbildungen
gebunden. Das Lebendige aber funktioniert jenseits aller
Wortvorstellungen und -begriffe. Die Wortsprache ist eine biologische
Ausdrucksform auf bereits hoher Entwicklungsstufe. Sie ist kein
unerlässliches Attribut des Lebendigen, denn das Lebendige funktioniert
lange, ehe es eine Sprache und Wortbildung gibt. Die Tiefenpsychologie
operiert daher mit einer spät entwickelten Lebensfunktion. Bei den
Tieren gibt es den Ausdruck durch Laute. Doch das Lebendige
funktioniert auch jenseits und vor aller Lautbildung als Ausdrucksform.
Die Wortbildung
selbst verrät den Zugang zum Problem, in welcher Weise sich das
Lebendige ausdrückt. Das deutsche Wort »Ausdruck« und das englische
»expression« beschreiben genau, offenbar auf Grund der
Organempfindungen, die Sprache des Lebendigen: Das Lebendige drückt
sich in Bewegungen aus, und wir sprechen daher von »Ausdrucksbewegung«.
Die Ausdrucksbewegung ist eine streng zugehörige Eigenschaft des
Protoplasmas. Sie unterscheidet das Lebendige von allen nichtlebenden
Systemen. Das Wort besagt wörtlich, und wir müssen es wörtlich nehmen,
dass sich im lebendigen System etwas »aus-« oder »herausdrückt« und
daher »bewegt«. Nichts anderes als das Vorquellen des Protoplasmas,
also die Expansion oder Kontraktion, kann gemeint sein. Die wörtliche
Bedeutung von »Emotion« ist »Herausbewegung«. Sie ist gleichzeitig
»Ausdrucksbewegung«. Der physikalische Vorgang der plasmatischen
Emotion oder Ausdrucksbewegung ist unabtrennbar verknüpft mit einer
unmittelbar verständlichen Bedeutung, die wir den »Bewegungsausdruck«
zu nennen pflegen. Die Bewegung des Protoplasmas hat also einen
Ausdruck im Sinne einer Emotion, und jede Emotion oder der Ausdruck
eines Organismus ist an Bewegung geknüpft. Der zweite Teil dieses
Satzes wird einer kleinen Berichtigung bedürfen. Denn wir wissen aus
der Orgontherapie, dass es einen Ausdruck bei Menschen gibt, der durch
Unbeweglichkeit oder Starre bedingt ist.
Wir haben hier nicht
mit Worten gespielt. Es ist offenkundig, dass die Sprache in ihren
Wortbildungen sich an die Wahrnehmung innerer Bewegungszustände und
Organempfindungen anlehnt und dass die Worte, die emotionelle Zustände
beschreiben, die entsprechenden Ausdrucksbewegungen des Lebendigen
unmittelbar wiedergeben.
Wenn auch die Sprache
den plasmatischen Emotionszustand unmittelbar wiedergibt, so vermag sie
an diesen Zustand selbst nicht heranzukommen. Das Lebendige
funktioniert nicht nur vor und jenseits der Wortsprache; es hat
überdies seine eigenen Ausdrucksformen der Bewegung, die mit Worten
überhaupt nicht zu fassen sind. Jeder musikalische Mensch kennt den
Emotionszustand, den große Musik hervorruft. Versucht man diese
Emotionszustände in Worte zu fassen, so sträubt sich das musikalische
Empfinden. Die Musik ist wortlos und will es bleiben. Sie ist trotzdem
ein Bewegungsausdruck des Lebendigen und ruft im Hörer »Ausdruck« oder
»Bewegtheit« hervor.
Man pflegt die
Wortlosigkeit der Musik entweder als Zeichen von mystischer Geistigkeit
oder aber als allertiefsten, in Worten nicht fassbaren Gefühlsausdruck
zu bezeichnen. Der naturwissenschaftliche Standpunkt bekennt sich zur
Deutung, dass der musikalische Ausdruck mit letzten Tiefen des
Lebendigen zusammenhängt. Was man als »Geistigkeit« großer Musik
betrachtet, wäre demnach nur eine Umschreibung der einfachen Tatsache,
dass Gefühlsernst identisch ist mit Kontakt mit Lebendigem jenseits der
Sprachgrenze.
Die Wissenschaft hat
bisher über das Wesen des musikalischen Bewegungsausdrucks nichts
Entscheidendes zu sagen gewusst. Der Künstler selbst spricht zu uns
zweifellos in der Form wortloser Ausdrucksbewegungen aus der Tiefe der
Lebensfunktion; aber er könnte das, was er musikalisch oder malerisch
ausdrückt, selbst ebenso wenig in Wort fassen wie wir. Ja, er verwahrt
sich gegen jeden Versuch, die Ausdruckssprache der Kunst in die
Wortsprache des Menschen zu übersetzen. Ihm liegt also sehr viel an der
Reinheit seiner Ausdruckssprache. Er bestätigt dadurch die
orgonphysikalische Behauptung, dass das Lebendige über eine eigene
Ausdruckssprache vor, jenseits und unabhängig von aller Wortsprache
verfügt. Sehen wir zu, was die orgontherapeutische Arbeit zu diesem
Problem, zu sagen hat.
Knüpfen wir an eine alltägliche Erfahrung der Orgontherapie an.
Die Kranken kommen
zum Orgontherapeuten voll von Nöten. Diese Nöte sind für das geübte
Auge an den Ausdrucksbewegungen und dem Bewegungsausdruck ihres Körpers
direkt abzulesen. Läßt man die Kranken nun nach Belieben sprechen, so
stellt man fest, daß ihr Reden von den Nöten wegführt, sie in dieser
oder jener Weise verhüllt. Will man zu einer korrekten Entscheidung
kommen, so muss man den Kranken dazu verhalten, vorerst nicht zu
sprechen. Diese Maßnahme erwies sich in hohem Grade als fruchtbar. Denn
sobald der Kranke nicht mehr redet, tritt der körperliche
Bewegungsausdruck klar hervor. Nach wenigen Minuten des Schweigens hat
man gewöhnlich den meist hervorstechenden Charakterzug, oder korrekter,
den plasmatischen Bewegungsausdruck erfasst. Schien der Kranke, während
er sprach, freundlich zu lächeln, so verwandelt sich im Schweigen sein
Lächeln in ein leeres Grinsen, an dessen maskenhaftem Charakter auch
der Kranke selbst nicht lange zweifeln kann. Schien der Kranke, während
er sprach, mit verhaltenem Ernst über sein Schicksal zu sprechen, so
tritt während des Schweigens etwa ein Ausdruck verhaltener Wut an Kinn
und Hals unzweideutig hervor.
Diese Beispiele
genügen, zu zeigen, dass die Wortsprache regelmäßig auch als Abwehr
funktioniert: Die Wortsprache verdeckt die Ausdruckssprache des
biologischen Kerns. In sehr vielen Fällen ist die Funktion der
Wortsprache so weit entartet, dass die Worte überhaupt nichts
ausdrücken und bloß eine dauernde, nichts sagende Betätigung der Hals-
und Stimmuskulatur darstellen. Ich glaube auf Grund ernster
Erfahrungen, dass in vielen Psychoanalysen von jahrelanger Dauer die
Behandlung ein Opfer dieser krankhaft gewordenen Wortsprache wurde. Man
kann, und muß sogar, diese klinische Erfahrung ins Soziale übertragen.
Unendlich viele Vorträge, Publikationen, politische Debatten haben
nicht die Funktion, wichtige Lebensfragen zu enthüllen, sondern im
Wortschwall zu verbergen.
Die Orgontherapie
unterscheidet sich von allen anderen Arten der Beeinflussung des
Organismus dadurch, dass sie unter weitgehender Ausschaltung der
Wortsprache den Kranken dazu anhält, sich biologisch auszudrücken.
Derart führ sie ihn in eine Tiefe, die er stets flieht. So lernt man in
der Orgontherapie die Sprache des Lebendigen kennen, verstehen und
beeinflussen. Die primäre Ausdrucksprache des lebenden Protoplasmas ist
beim Kranken nicht ohne weiteres »rein« zu haben. Wäre sein
Bewegungsausdruck biologisch »rein«, so hätte er keinen Anlass, den
Orgontherapeuten aufzusuchen. Wir müssen durch eine Fülle krankhafter,
unnatürlicher, im Prozess des Lebens selbst nicht gegebener
Ausdrucksbewegungen hindurch, um zum echten biologischen
Bewegungsausdruck vorzudringen. Die menschliche Biopathie ist ja nichts
anderes als die Summe aller Verzerrungen der natürlichen
Ausdrucksformen des Lebendigen. Durch die Enthüllung der krankhaften
Ausdrucksformen lernen wir die menschliche Biopathie in einer Tiefe
kennen, die den mit der Wortsprache arbeitenden Heilmethoden
unzugänglich ist. Dies ist nicht einer Unzulänglichkeit dieser Methoden
zuzuschreiben. Sie sind perfekt im eigenen Bereiche. Leider liegt die
Biopathie mit ihrem verzerrten Lebensausdruck außerhalb des Bereiches
der Sprache und der Vorstellungen.
Die
orgontherapeutische Arbeit an der menschlichen Biopathie liegt deshalb
wesentlich außerhalb des Bereiches der Wortsprache. Wir bedienen uns
natürlich auch des gesprochenen Wortes; aber die Worte appellieren
nicht an die Vorstellungen des Alltags, sondern an die
Organempfindungen. Es wäre völlig fruchtlos, dem Kranken seinen Zustand
etwa in Begriffen der Physiologie verständlich zu machen. Wir sagen ihm
nicht: »Ihre Kaumuskeln sind im Zustand chronischer Kontraktur, deshalb
bewegt sich das Kinn beim Sprechen nicht, deshalb ist Ihre Stimme
monoton; aus dem gleichen Grunde können Sie nicht weinen; Sie müssen
immerfort schlucken, um einen Weinimpuls zu bekämpfen, etc.« Der Kranke
würde solche Sätze zwar intellektuell begreifen, aber er könnte nichts
am Zustand ändern.
Wir arbeiten auf
einem biologisch tieferen Niveau des Verständnisses. Es liegt uns
überhaupt nicht viel daran, genau angeben zu können, welche einzelnen
Muskeln kontrahiert sind. Es würde nichts nützen, etwa den
Massetermuskel zu drücken; es gäbe keine Reaktion außer gewöhnlichen
Schmerz. Wir arbeiten mittels der Gebärdensprache. Nur dann, wenn wir
den Gesichtsausdruck des Kranken empfunden. haben, sind wir in der
Lage, ihn auch zu begreifen. Und ihn begreifen bedeutet hier ganz
streng, zu wissen, welche Emotion sich in ihm »ausdrückt«. Es ist dabei
gleichgültig, ob die Emotion bewegt tätig oder unbewegt verhalten ist.
Wir werden zu verstehen haben, worin der Unterschied zwischen einer
bewegten und einer verhaltenen Emotion besteht.
Wir operieren mit
primären biologischen Funktionen, wenn wir den »Bewegungsausdruck«
eines Kranken »empfinden«.Wenn in einer Gruppe von Sperlingen ein
einziger Sperling unruhig wird und Gefahr witternd davonfliegt, fliegt
die ganze Gruppe, gleichgültig ob alle anderen Sperlinge die Ursache
der Unruhe bemerkt haben oder nicht. Die Panikreaktion im Tierbereiche
beruht auf einer unwillkürlichen Reproduktion des Bewegungsausdrucks
der Angst. Man kann auf der Strasse beliebig viele Menschen
veranlassen, stehenzubleiben und suchend in den Himmel zu blicken, wenn
man so tut, als ob man etwas Interessantes in der Luft hoch oben
beobachtete. Diese Beispiele genügen.
Der Bewegungsausdruck
des Kranken führt in unserem Organismus unwillkürlich eine Imitation
herbei. Indem wir imitieren, empfinden und verstehen wir den Ausdruck
in uns selbst und derart auch im Kranken. Da Jede Bewegung einen
Ausdruck hat und derart einen Emotionszustand des Protoplasmas verrät,
wird uns die Gebärden- und Ausdruckssprache zum wesentlichen
Verständigungsmittel im Kontakt mit den Emotionen des Kranken. Wie ich
bereits betonte, stört die Wortsprache die Gebärdensprache. Unter
»Charakterhaltung« verstehen wir den »Gesamtausdruck« eines Organismus.
Dem entspricht wörtlich der »Gesamteindruck«, den ein Organismus auf
uns macht.
Der Bewegungsausdruck
verschiedener Menschen mag im einzelnen sehr verschieden sein. Es gibt
nicht zwei Individuen, die die genau gleiche Sprache oder Sperre der
Atmung oder den gleichen Gang hätten. Trotzdem kann man einige
allgemeingültige Ausdrucksformen unterscheiden. In der
Tiefenpsychologie unterscheiden wir prinzipiell den »neurotischen« und
den »genitalen« Charakter auf Grund der muskulären und charakterlichen
Panzerung. Wir sagen, ein Charakter wäre »neurotisch«, wenn der
Organismus von einem starren Panzer beherrscht wird, den der
Betreffende nicht willkürlich verändern oder beseitigen kann. Wir
sprechen von einem »genitalen« Charakter, wenn die emotionellen
Reaktionen nicht durch starre Automatismen eingeschränkt sind, wenn
also der Betreffende biologisch entsprechend der jeweiligen Situation,
in der er sich befindet, zu reagieren vermag. Diese zwei
charakterlichen Grundtypen lassen sich nun auch im Bereiche des
biologischen Funktionierens recht scharf auseinanderhalten.
Die Panzerung, ihre
Art, der Grad ihrer Starre und Einschränkung des emotionellen
Bewegungsausdrucks lassen sich leicht beurteilen, wenn man einmal die
biologische Ausdrucksprache zu beherrschen gelernt hat. Der
Totalausdruck des gepanzerten Organismus ist der der »Zurückhaltung«.
Dieser Ausdruck ist ganz wörtlich zu nehmen. Der Körper drückt aus,
dass er sich zurückhält. Rückgezogene Schultern, hochgehaltener
Brustkorb, festgeklemmtes Kinn, flacher, verhaltener Atem, hohles
Kreuz, rückgezogenes, »stilles« Becken, »ausdruckslose« oder starr
gestreckte Beine sind die wesentlichen Haltungsmechanismen der totalen
Zurückhaltung. Wir können sie schematisch in folgender Zeichnung
festhalten:
Diese körperliche
Grundhaltung des »neurotischen« Charakters tritt klinisch am klarsten
als »arc de circle« der Hysterie und als »Opisthotonus« der stupurösen
Katatonie in Erscheinung. Man überzeugt sich leicht davon, dass die
Grundhaltung des gepanzerten Körpers nicht willkürlich hergestellt,
sondern autonom ist. Der gepanzerte Mensch fühlt die Haltung der
Panzerung als solche nicht. Versucht man sie ihm in Worten zu
beschreiben, so versteht er meist nicht, worüber man spricht. Er spürt
nicht die Panzerung selbst, sondern nur die Verzerrung seiner inneren
Lebensempfindungen. Er beschreibt sich als uninteressiert, steif,
eingeengt, leer, oder er klagt über Herzpalpitation, Stuhlverstopfung,
Schlaflosigkeit, innere nervöse Unruhe, Übelkeit etc. Hat die Panzerung
sehr lange bestanden und auch die Gewebe der Organe beeinflusst, so
kommt der Kranke zu uns wegen Magenulcus, Rheumatismus, Arthritis,
Krebs oder Angina pectoris. Ich kann mich auf diese Übersicht
beschränken, da ich die rein klinischen Tatsachen anderwärts
ausführlich dargelegt habe. Hier kommt es uns vor allem darauf an, zu
den Funktionen der biologischen Tiefe vorzudringen und aus ihnen das
Funktionieren des Lebendigen abzuleiten. Der gepanzerte Organismus ist
außerstande, seinen Panzer aufzulösen. Er ist aber auch außerstande,
die primitiven biologischen Emotionen zu äußern. Er kennt das
Kitzelempfinden, aber er weiß nicht, was orgonotische Lust ist. Er kann
keinen Lustseufzer ausstoßen oder willkürlich imitieren. Statt eines
Seufzers kommt typisch ein Stöhnen, unterdrücktes grollendes Brüllen
oder gar ein Brechimpuls zum Vorschein. Er ist nicht imstande, einen
Wutschrei auszustoßen oder seine Faust Wut imitierend niedersausen zu
lassen. Er kann nicht voll ausatmen. Sein Zwerchfell ist in der
Bewegung sehr eingeschränkt. (Das lässt sich mittels der
Röntgenmaschine leicht feststellen.) Er vermag das Becken nicht
vorwärts zu bewegen. Oft versteht der Gepanzerte nicht, was man von ihm
verlangt, oder er führt die verkehrte Bewegung aus, also die, die in
der Richtung der Zurückhaltung liegt. Die Überspannung des peripheren
Muskel-Nervensystems stellt eine große Empfindlichkeit gegen Druck her.
Man kann einen gepanzerten Organismus an bestimmten Stellen des Körpers
nicht berühren, ohne hochgespannte Angst- oder Nervositätserscheinungen
hervorzurufen. Wahrscheinlich lässt sich das, was der Volksmund als
»Nervosität« bezeichnet, auf diese Überempfindlichkeit der
hochgespannten Muskeln zurückführen. Aus der totalen Zurückhaltung
folgt die Unfähigkeit zur plasmatischen Zuckung und Konvulsion im
sexuellen Akt, also die orgastische Impotenz. Daraus folgt weiter die
Stauung der sexuellen Energie, und aus der Sexualstauung folgt alles,
was ich unter dem Begriff »Biopathie« zusammenfasse.
Die zentrale Aufgabe
der Orgontherapie ist die Zerstörung der Panzerung, mit anderen Worten
die Herstellung der Beweglichkeit des Körperplasmas. Im gepanzerten
Organismus ist die Pulsationsfunktion in allen Organen mehr oder minder
eingeschränkt. Die Orgontherapie hat die volle Fähigkeit zur Pulsation
wiederherzustellen. Das geschieht biophysikalisch, indem die
Zurückhaltung aufgelöst wird. Das Resultat der ideal durchgeführten
Orgontherapie ist das Auftreten des Orgasmusreflexes. Er ist, wie wir
wissen, neben der Atmung die wichtigste Bewegungserscheinung im
Tierbereich. Der Organismus »gibt sich« im Augenblicke des Orgasmus
völlig seinen Organempfindungen und den unwillkürlichen Körperzuckungen
hin. Derart ist mit der Bewegung des Orgasmusreflexes unweigerlich der
Ausdruck der »Hingabe« verknüpft. Der Kenner unserer Arbeit weiß, dass
wir nicht etwa dem Kranken predigen, sich »hinzugeben«. Es würde nichts
nützen, denn er könnte es nicht ausführen. Und wenn er es könnte,
brauchte er unsere Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen. Wir lassen auch
nicht den Kranken »Hingabe üben«, denn keinerlei willkürliche
technische Maßnahme wäre imstande, die unwillkürliche Haltung der
Hingabe herbeizuführen. Das Lebendige funktioniert autonom, jenseits
des Bereiches von Sprache, Intellekt und Willkür. Es funktioniert nach
bestimmten Naturgesetzen, die wir hier zu erforschen haben. Der
Orgasmusreflex ist mitsamt seinem Gebärdenausdruck der Hingabe, wie's
sich bald zeigen wird, der Schlüssel zum Verständnis von fundamentalen
Naturprozessen, die weit über das Individuum und sogar über das
Lebendige hinausführen. Wer also den weiteren Ausführungen in
fruchtbarer Weise folgen will, der bereite sich auf eine ernste Reise
in das Gebiet der kosmischen Energie vor. Er wird enttäuscht und
verständnislos versagen, wenn er sich dabei nicht radikal von der
Sexualitätsauffassung der Nachtklubs freigemacht hat. Wir haben früher
die Funktionen des Orgasmus im Bereiche der Psychologie und Physiologie
zur Genüge studiert, um uns hier auf die grundsätzliche
Naturerscheinung »Orgasmus« ausschließlich zu konzentrieren. Im
Orgasmus versucht der Organismus merkwürdigerweise, die beiden
embryologisch wichtigen
Stellen des Mundes und des Afters immerzu zusammenzubringen.
Ich sagte, die
Haltung, von der der Orgasmusreflex seinen Ausgang nimmt, wäre
identisch mit dem Bewegungsausdruck der »Hingabe«. Sie ist uns
unmittelbar verständlich: Der Organismus gibt sich zunächst seinen
plasmatischen Erregungen und Strömungsempfindungen hin; er gibt sich
ferner völlig dem Partner in der sexuellen Umarmung. Jede Art Reserve,
Zurückhaltung und Panzerung ist aufgegeben. Alle biologische Aktivität
ist auf die Kernfunktion der plasmatischen
Zuckung reduziert.
Beim Menschen hört alle Denk- und Phantasietätigkeit auf. Der
Organismus ist »hingegeben« im reinsten Sinne des Wortes. Der
emotionelle Bewegungsausdruck der Hingabe ist klar. Unklar ist die
Funktion der orgastischen Zuckung. Diese Zuckung besteht in
abwechselnden Kontraktionen und Expansionen des totalen Körperplasmas.
Welche Funktion hat die Annäherung der beiden Enden des Rumpfes
aneinander in der orgastischen Zuckung? Sie scheint auf den ersten
Blick keinerlei »Sinn« zu verraten. Der Ausdruck dieser Bewegung ist
unverständlich. Wenn unser Satz zu Recht besteht, dass jede
organismische Bewegung einen verständlichen Ausdruck hat, so versagt
unsere Behauptung im Falle der orgastischen Zuckung. Wir können im
Orgasmus keinen verständlichen, in die Wortsprache übersetzbaren
Ausdruck finden. Statt nun über dieses Problem naturphilosophisch zu
spekulieren, wollen wir uns mit der naturwissenschaftlichen Antwort
bescheiden, dass die orgastische Zuckung uns zwar unverständlich
erscheint, dass sie aber dennoch einen verborgenen Ausdruck haben muss.
Denn sie ist wie jede Bewegung des Lebendigen eine Ausdrucksbewegung;
sie müsste also auch einen Bewegungsausdruck verraten.
Wir werden im
weiteren Verlaufe unserer Untersuchungen zu einer erstaunlichen, aber
einwandfreien Antwort auf diese Grundfrage der Lebensfunktion gelangen.
Doch wir müssen weit abschweifen und eine große Anzahl biologischer
Erscheinungen sammeln und richtig anordnen lernen, ehe wir die Antwort
finden. Sie liegt jenseits des individuellen biologischen Organismus,
ist also überindividuell, aber in keiner Weise mystisch, metaphysisch
oder spiritualistisch. Sie löst das Rätsel, in welcher konkreten Weise
das Tier und die Pflanze mit der kosmischen Orgonenergie verknüpft
sind. Sie erklärt derart auch, weshalb die orgastische Sehnsucht der
Lebewesen nicht nur die allertiefste Sehnsucht, sondern in so
hervorragender Weise kosmische Sehnsucht ist. Man weiß zwar allgemein,
dass der Organismus ein Stückchen Kosmos ist, aber es blieb bisher
unklar, wie. Kehren wir zur orgontherapeutischen Klinik zurück:
Orgonphysikalisch
gesprochen besteht unsere Aufgabe darin, den menschlichen Organismus zu
befähigen, den Automatismus der Zurückhaltung aufzugeben und die
Fähigkeit zur Hingabe zu erlangen. Mit anderen Worten: Der Organismus
vermag nicht, sich an irgendwelche Erlebnisse, sei es Arbeit, sei es
Freude, hinzugeben, solange die beiden embryonalen Enden des Rumpfes
rückwärts statt vorwärts zueinander streben. Da es die muskuläre
Panzerung ist, die jede Art von Hingabe behindert und jede Art
biopathischer Lebenseinschränkung verursacht, kommt es zunächst auf die
Auflösung der muskulären Panzerung an. Es ist einzig und allein diese
Auflösung der muskulären Starre, die geeignet ist, das Ziel zu
erreichen. Weder Psychoanalyse, Zureden, Suggestion beliebiger Art noch
Beten oder Gymnastik könnte es leisten. Wir belehren den Kranken gar
nicht über das Ziel, das er erreichen wird, wenn unsere Arbeit gelingt.
Wir wissen aus zahlreichen Erfahrungen, dass er unweigerlich den
totalen Orgasmusreflex entwickeln wird, wenn wir seine muskuläre
Panzerung auflösen. Im Verlaufe der Arbeit überzeugen wir uns
regelmäßig, dass die Haupt- und Grundfunktion der muskulären Panzerung
die ist, den Orgasmusreflex nicht zuzulassen. Ich habe an anderer
Stelle zahlreiche Mechanismen der Panzerung beschrieben. Hier möchte
ich einen neuen Gesichtspunkt einführen, der uns die charakterliche und
muskuläre Panzerung auf dem Niveau der primitivsten Lebensfunktionen
begreiflich macht. Die entsprechenden Beobachtungen sind nun etwa zehn
Jahre lang gesammelt worden. Ich darf also die volle Verantwortung für
die Bedeutung übernehmen, die ihnen in der Biophysik zukommen.
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