Skan
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Was ist Skan? | David Boadella

David Boadella

Befreite Lebensenergie


Die Spannungsmuster des Körpers können wir als die erstarrte Geschichte eines Menschen ansehen. Dies wird zuallererst im Gesicht deutlich. Wie wichtig der Blickkontakt bei der Behandlung von autistischen Kindern ist, wurde an anderer Stelle gezeigt. Gerade diese Kinder zeigen besonders dort eine massive Unbeweglichkeit und Blockade. Alle neurotischen Menschen offenbaren eine mehr oder weniger schwere Störung im Augenbereich, von der wir uns vorstellen können, daß sie, ausgehend von den Augen selbst, sich über die Stirn und die großen Kopfhautmuskeln ausbreitet, bis sie in den Nacken einmündet. Das Zurückhalten von Weinen, von Furcht oder Zorn kann starke Spannungen in der Kopfhaut und den Nackenmuskeln an der Schädelbasis hervorrufen. Diese Spannungen sind der physiologische Grund für die ernsten Kopfschmerzen, die bei bestimmten Charakteren weit verbreitet sind.

Um dieses Gebiet zu aktivieren, ist es notwendig, dazu zu ermutigen, die Kopfhaut zu bewegen und die Augen weit zu öffnen. Wir können auch daran arbeiten, die Bewusstheit dafür zu entwickeln, wie die Augen des Klienten auf den Therapeuten reagieren - oder nicht reagieren. Zu den Emotionen, die aus diesem Gebiet befreit werden müssen, bevor jemand wieder gesund sehen und Blicke voller Kontaktfähigkeit aussenden kann, gehören panikartige Flucht, verborgenes Misstrauen und mörderischer Zorn, die sich alle in den Augen ausdrücken, während das Weinen besonders von den Muskeln zwischen den Augen festgehalten wird.

Dieses Beispiel gibt uns erste Hinweise auf die Art von Spannungen, mit denen wir es zu tun haben, auf die Emotionen, die hinter ihnen verborgen sind, sowie einen Anhaltspunkt dafür, wie sie freigelassen werden können. Eine vollständige Erörterung davon zu geben, wäre Aufgabe eines Biosynthese-Übungshandbuchs. Darum geht es hier jedoch nicht. Dennoch hoffe ich, dass das Gesagte und das noch folgende eine erste Einführung geben und die Grundlagen darstellen kann.

Natürlich ist jeder Bereich des Körpers mit dem nächsten verbunden, und die Unterteilungen sind ein wenig willkürlich. Die Spannungen in der oberen Hälfte des Gesichts stehen funktionell in Beziehung zur unteren Hälfte mit dem Zentrum um Mund und Kiefer. Klienten kommen z.B. mit eingefrorenem Lächeln oder dem herabgezogenen Verzweiflungsmund. Ein Zwangscharakter erscheint fast immer mit typischerweise aufeinander gepressten Lippen. Daneben gibt es die angespannten Kieferbacken, das schwache Kinn, die eingefallenen Wangen usw. - und alle drücken aus, welchen Gebrauch der Klient von seinen Gesichtsmuskeln zu machen gelernt hat. Das gesunde Kind und der gesunde Erwachsene verfügen über Muskeln, die ihnen erlauben, das ganze Spektrum von Emotionen entsprechend der Situation auszudrücken. Solche Menschen sind beweglich und annehmbar. Angespannte Personen verfügen nur über eine stark eingeschränkte Bandbreite des Mienenspiels, die sie sich angeeignet haben, um mit Stress umzugehen. Sie können diese Ausdrucksweisen nicht leicht bewusst ändern. Sie werden sich nur dann grundlegend verändern, wenn die Emotion, die sich hinter den Anspannungen des Gesichts verbirgt, befreit werden kann.

Solche Emotionen sind, wenn sie in Therapiesitzungen erscheinen, natürlicherweise kindliche, weil die ersten Blockaden des gefühlsmäßigen Ausdrucks gewöhnlich im Kindesalter aufgebaut werden. In der Therapie ist es möglich, unterdrückte Impulse - wie Beißen, Saugen, Weinen und Grimassen schneiden - aus diesen Regionen des Gesichts zu befreien. Mit jedem solchen affektiven Ausbruch, jeder solcher Befreiung, finden die Klienten oft die Erinnerung an eine traumatische Kindheitserfahrung wieder. Es ist aber nicht erforderlich, diese Traumata aufzudecken, um zu einer Verbesserung des neurotischen Zustandes zu gelangen. Wichtig ist aber, die gefesselten Emotionen aus den Spannungen zu befreien, die ihren Ausdruck blockiert haben. Das Gesicht kann sich dann richtig entspannen, vielleicht zum ersten Mal seit dem frühen Trauma, und der Klient ist besser in der Lage, sich der Welt ohne die verkrüppelnden Einschränkungen der Vergangenheit zu stellen, die sich in ihm buchstäblich verkörpert hatten.

Es gibt im System des Körpers zwei hauptsächliche Einschnürungen: eine ist der Hals, die andere die Taille. Der Hals ist wie eine Leitungsröhre, die den Kopf mit dem restlichen Körper verbindet. Verspannungen sind hier besonders häufig. Unabhängig von Reich sind solche Spannungen sowohl von Feldenkrais wie von Alexander beschrieben worden; sie bewirken, dass der Kopf von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem Körper abgetrennt wird. Viele Menschen fühlen sich mit ihrem Kopf identifiziert und vom Körper abgeschnitten. Einige Schizophrene allerdings leiden wegen dieser Konstriktionen unter derartig unerträglichem Druck im Kopf, dass sie sich mit ihrem Körper identifizieren und den Kopf als etwas Fremdes empfinden. Sie wünschen sich sogar, sie könnten ihn abnehmen und durch einen neuen ersetzen. Das Gefühl der Identifikation erweist sich als abhängig von der Fähigkeit eines Menschen, sich dessen bewusst zu sein, was er körperlich empfindet.

Im Kehlbereich werden hauptsächlich Emotionen wie lautstark ausgedrücktes Schluchzen, Brüllen und Schreien zurückgehalten. In unserer Kultur sollen Kinder ja nicht allzu viel Lärm machen. Aber was soll ein Kind denn sonst tun, wenn es unter unerträglichen Stress gerät? Es kann nur lernen, seinen Zorn herunterzuschlucken und seine Trauer abzuwürgen. Durch die Belebung der Muskeln in Kehle und Hals kommen dann vielleicht Jahre später in der Therapie diese nicht ausgedrückten und unterbundenen Gefühle in ursprünglicher Stärke wieder hervor. Es ist bemerkenswert zu beobachten, wie sich die Hautfarbe zwischen dem Gesicht und dem Rumpf verändert, wenn die Emotionen frei werden. Die Klienten empfinden das Gefühl einer »Klärung« im Kopf. Ein Sinn für die Einheit zwischen Kopf und Rumpf entsteht. Sie beginnen ein Gefühl von Koordination und Anmut zu erfahren, das jeder vom Glück Begünstigte, der frei von solchen Spannungen ist, für selbstverständlich nimmt.

Im Nacken zurückgehaltener Zorn ist mit verspannten Schultermuskeln verbunden, die weite Bereiche des Rückens einbeziehen. Es ist erstaunlich, wieviel Wut in den Rücken mancher Leute festsitzt. Natürlich ist es tote Wut, die zu rigiden, starren Rücken und steifen Schultern führt sowie zu empfindungslosen Armen und häufig schlechter Blutzirkulation. Die einzige Möglichkeit, in dieser Region die Beweglichkeit wiederherzustellen, besteht darin, in einer kontrollierten Situation für Gelegenheiten zu sorgen, in denen der Klient seinen Zorn ungefährdet in Form von heftigen Arm- und Faustbewegungen entladen darf. Durch besondere Vorkehrungen im Behandlungsraum ist es möglich, ein sicheres Ventil für Impulse wie Schlagen und Stoßen, bei denen der ganze Rücken einbezogen sein kann, anzubieten. Natürlich muss zwischen Therapeut und Klient ein sehr gutes Verhältnis bestehen. Es ist tatsächlich durchaus möglich, gleichzeitig dieser alten Wut aus der Vergangenheit freien Lauf zu lassen und sich trotzdem sowohl der gegenwärtigen Situation bewusst zu sein als auch der Notwendigkeit, weder den Raum noch den Therapeuten zu demolieren. Die Umstände, die nötig sind, um Wut auf diese Weise freizusetzen, richtig einzuschätzen, ist eine der Fertigkeiten, über die ein bio-energetischer Therapeut verfügen muss.

Nach der Hals-Einschnürung kommen wir nun zum Rumpf. Hier ist der Sitz eines Anzeigers, dem eine Schlüsselfunktion bei dieser Art von Therapie zukommt: die Atmung. Weil sie so fundamental wichtig ist für das Leben überhaupt und für den emotionalen Ausdruck in jeder Form, ist die Arbeit an der Atmung grundlegend für diese Therapie. Sie unterliegt jeder Arbeit an bestimmten Spannungen in bestimmten Teilen des Körpers und begleitet sie.

Sind wir gesund, pulsiert unser ganzer Rumpf, während wir atmen, sanft und wellenartig. Bei einem gesunden Kind oder einem gesunden Tier können wir beobachten, wie sich Brust und Bauch völlig frei beim Atmen bewegen. Eine der ersten Möglichkeiten jedoch, die ein Kind lernt, wenn es ein Gefühl unterdrücken will, besteht darin, seine Atmung zu kontrollieren. Diese Kontrolle dient dazu, die körperlichen Prozesse den Zielen des Geistes unterzuordnen, der in diesem Fall versucht, die Konflikte zu vermeiden, die ein offenes Ausdrücken von Gefühlen in einer repressiven Familie mit sich bringen würde.

Jeder Neurotiker zeigt Störungen in der Atmung, die sich in zwei extremen Formen äußern können. Erstens als hohe Brust bei eingezogenem Bauch, also die typische Militärhaltung, die von F.M. Alexander in seinen Büchern zur Bewegungskoordination und zur Körperhaltung kritisiert wurde, und zweitens als allgemein mangelhafte Atmung, bei der nur ein Minimum an Luft in die Lungen aufgenommen wird. Schizoiden Menschen und vor allem manchen Hysterikern wird leicht schwindlig, wenn sich ihre Atmung vertieft. Sie dazu zu bringen, ein vollständigeres Atmen anzunehmen, ist einem Akklimatisierungsprozess vergleichbar - man muss Schritt für Schritt vorgehen, damit sie lernen, eine höhere Vitalitätsebene zuzulassen.

An den Rumpf schließt sich mit der Taille eine weitere Einschnürung an. Sie steht mit Verspannungen im Unterbauch, im Kreuz und den Muskeln des Beckenbodens in Zusammenhang, die alle das Becken zusammenziehen sollen, das bei vielen Neurotikern in einer nach hinten zurückgezogenen Position festgehalten wird. Unbeweglichkeit des Beckens führt natürlich zu sexuellen Schwierigkeiten, die jedoch keinesfalls nur als auf diesen Bereich beschränkt und von allem übrigen getrennt betrachtet werden dürfen. Für eine gute sexuelle Funktion ist der volle Ausdruck der Persönlichkeit nötig. Reichs ausführliche Beschreibung von Orgasmusstörungen ist des öfteren von Menschen missverstanden worden, die dachten, er biete eine Art sexuelles Allheilmittel an. Nichts könnte mehr von der Wahrheit entfernt sein. Die Fähigkeit, sich ganz einer Erfahrung hinzugeben, ist unteilbar, und zwar gleichgültig, ob es bei dieser Erfahrung darum geht, sich einer Arbeit zu widmen, sich auf ein Musikstück, ein Gemälde oder eine Theateraufführung einzulassen, sich in einer engen Beziehung mit einem anderen Menschen zu engagieren, oder um irgend sonst eine grundlegende Lebenserfahrung. Jede »Hochspannung« in irgendeinem Teil des Körpers verringert ein wenig die volle Erfahrung.

Das Becken mündet naturgemäß in die Beine, die Hauptstützen des Körpers. Verspannungen in den Beinen haben eine Störung des Kontakts zum Boden zur Folge. Der in den Beinen unterdrückte Ausdruck ist vor allem das Stoßen oder Treten - sowohl aggressiver wie auch lustvoller Art. Besonders Lowen und auch Keleman haben betont, wie wichtig die Herstellung eines freien Empfindungsflusses in den Beinen ist, um zu einem Gefühl von »Geerdet«-sein zu gelangen. Wenn wir uns einige der verbreitetsten Störungen vor Augen halten, ist leicht zu verstehen, was damit gemeint ist. Viele Leute empfinden buchstäblich, daß sie mit der Erde nicht viel zu tun haben. Einige schizoide Menschen haben vielleicht sogar das Gefühl, zu schweben. Schwäche in den Gelenken ist charakteristisch für schizoide Störungen. Beine, die übermäßig rigide sind, mögen eine feste Stütze sein, verhindern aber Beweglichkeit und Flexibilität. Ein Mangel an Sprungkraft in den Beinen (eng!. »spring«: Sprung, Sprungkraft, Sprungfeder, aber auch Frühling; Anm. z. dt. Ausg.) steht in Verbindung mit einem Verlust an Lebensfreude. Man braucht nur einem vor Freude tanzenden Kind zuzusehen und weiß, was ich meine.

Wenn die Hauptverspannungen des Körpers durch spezielle Massagen oder Bewegungsübungen aufgelöst sind und so die grundlegenden Ausdrucksweisen des Körpers hervorgelockt werden, erfahren die Klienten ihren Körper auf neue Weise. Sie lernen sich und ihre Welt anders schätzen. Das englische »value«: Wert, stammt vom Lateinischen »valere«, das »wert sein«, aber auch »stark, gesund sein«, bedeutet. In der bio-energetischen Terminologie meint Gesundsein so frei zu sein, daß eine rhythmische Funktionsweise ohne Blockaden, die aus chronischen Muskelverspannungen resultieren, möglich ist.

Es ist Reichs Verdienst, die feinen Beziehungen zwischen den Abwehrmechanismen des Körpers und der emotionalen Vitalität, die in ihnen zurückgehalten wird, aufgedeckt und von hier aus Wege gewiesen zu haben, wie das Kräftegleichgewicht in Richtung Gesundheit verändert werden kann. Solche Gesundheit ist physisch wie psychisch zugleich.

In einem Zitat von D.H. Lawrence ist dieses Thema gut zusammengefasst:

Das Leben des Körpers ist ein Leben der Empfindungen und Emotionen. Der Körper empfindet wirklichen Hunger, wirklichen Durst, wirkliche Freude in Sonne oder Schnee, wirkliches Vergnügen beim Duft von Rosen oder im Anblick eines Fliederbuschs; aber auch echten Zorn, echten Kummer, echte Zärtlichkeit, echte Wärme, echte Leidenschaft, echten Hass, echten Gram. Alle diese Emotionen gehören zum Körper und werden vom Verstand nur registriert.